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Zuende fragen dürfen

Jeden Stoff um mich herum kann ich eigentlich fragen: Was bist du chemisch? Im Chemie-Unterricht geschieht das nicht. Nicht mehr, seit ich Schüler war. Oder nicht mehr seit hundert Jahren. Oder nicht mehr seit den Chemie-Shows des Justus von Liebig vor dem Adel Münchens. Oder nicht mehr seit der Renaissance. Oder es ist verrückterweise nie geschehen. Ich weiß es nicht. Als ich Schüler war, hatte ich nur auf dem Papier Chemie. Der Lehrer stand die halbe Unterrichtszeit mit dem Rücken zur Klasse, bastelte an etwas, das nicht funktionierte, und diktierte uns einen Inhalt, der keinen Bezug zu seinem Gebastele und zu unserem Hirn hatte. Auf dem Papier sah es hingegen gut aus: Seht her, Eltern, eure Kinder werden unterrichtet.

Als Student verwirbelte man mich mit Kompliziertem. Die qualitative, dann gar die quantitative Analyse - eine Horror-Tour. Das Zerlegen komplexer Gleichungen in Redox-Teilgleichungen - ein Gang über eine schwankende Seilbrücke mit Absturzmöglichkeit in die Fehlerschlucht. Nucleophile Additionsmechanismen organischer Substanzen - ich paukte, ich konnte angeblich erklären - aber einen Stoff, einen chemischen oder technischen Prozess, irgendetwas dieser Art sah ich da nicht vor mir. Ich stolperte aus dem Chemie-Studium und war strohdoof, mit einer abgehakten Liste an akribisch von mir geforderten Einzelleistungen.

Hauruck, diktierte man mir als Assessor „Chemie-Unterricht". Mit einem Kanon: dem Lehrplan. Schau her, das ist es, dem folgst du, das haben informierte Männer für richtig befunden. Seit zwanzig Jahren (oder seit hundert Jahren oder immer schon, ich weiß es nicht) ist der Chemie-Lehrplan so gebaut, dass achtzig Prozent der Schüler das Kotzen bekommen. Offensichtlich auf „Show" ausgerichtet in der Absicht, und zum Scheitern verdammt in der jahrelangen Mühle des Unterrichtens. Chemie ist im Chemie-Lehrplan nicht die Herstellung, die Komponenten und die chemischen Eigenschaften des Reagenzglases, mit dem so oft hantiert wird. Es sind bunte und blubbernde Dinge in seinem Inneren. Chemie ist für die informierten Männer der Lehrplanchemie nicht das Metall und das Stadtgas und der Gummischlauch des Bunsenbrenners. Der Bunsenbrenner ist eine „Wärmezufuhr", und basta.

Chemieunterricht ist ein Ausklammern von neunundneunzig Prozent der chemisch kennenlernbaren Substanzen eines Chemiesaals mit der Begründung an die Schüler: Das ist zu kompliziert. Wir konzentrieren uns auf klares Einfaches. Mit der Begründung an die Lehrer: Das ist alles eintönig. Wir konzentrieren uns auf Interessantes. Mit der Überbegründung: Forschung ist Ausklammern von fast allem und Sezieren eines Ausschnitts. Mit einer zweckdienlichen und beim Gehen des Weges vergessenen Zielsetzung: Wir fangen mit Grundlegendem an. Das chemische Panorama der Welt um uns herum öffnet sich dann. Nein. Das Panorama einer die mich umgebende Welt erklärenden Chemie blieb mir bis ins eigene Lehrerdasein hinein verschlossen.

Ich vergaß, dass ich da überhaupt mir Zugriff hätte holen können: Zugriff auf eine Kenntnis der Chemie des Holzes des Tisches, an dem ich saß, Zugriff zur Kenntnis über die Plastikschicht, die als Schutz gegen irgendwas (was?) darüber furniert war (also festgeklebt - wieso klappt das?) und irgendwie (wie?) ihren Zweck erfüllte. Und so weiter. Zehn Jahre lang führte ich meine Schüler durch den amtlichen Lehrplan. Holte mir und uns da auch manchen Spaß heraus. Erlangte und genoss flüssig Routine im Hinüberbringen des „königlich-badenwürttembergischen Lehrplans der Chemie". Und stoppte die Prozedur, als sie mir langweilig wurde.

Das Jahr, in dem ich absehen konnte, dass ich sieben Klassen je zwei Stunden pro Woche wie am Fließband in Chemie ausbilden würde, dass ich aufpassen musste, diese Klassen mit ihrem in Nuancen verschiedenen Unterrichtsfortschritt nicht zu verwechseln - dieses Jahr zog ich noch durch, aber dann beendete ich meinen Chemie-Unterricht und trollte mich hinüber zur Biologie. Dieses Fach hat einen Lehrplan, den ich viel akzeptabler finde! Chemie an der Schule vergaß ich für etwa drei Jahre. Chemisch insgesamt hatte ich in der Zeit viel zu tun, aber freiberuflich. Dass ich überhaupt so einfach "stoppen" und "mich trollen" kann, ist hart erarbeitet: Die Verbeamtung habe ich ausgeschlagen und arbeite als Industrieberater so hinreichend außerhalb der Schule, dass ich bei Bedarf gar nicht unterrichten müsste.

Jetzt diese Homepage, ihren von mir erfundenen Lehrplan, ihre Fragestellungen erlebe ich als Comeback. „Was ist Stein?" - man glaubt es nicht, aber das habe ich mit zwölf Jahren mich zum letzten Mal gefragt. Seitdem wurde mir eng vorgelegt, was ich zu fragen und mit Blick auf Notengebung zu beantworten hätte. „Was ist Stein?" war in Chemie nie dabei. Unser an Geologie interessierter Erdkundelehrer kam da recht weit - bis er mich bat, die tatsächlichen Vorgänge als Chemiker zu erläutern, aufgrund derer Stalagmiten wachsen. Au ja!

Es geht beim Erklären eines Steins nicht um die Allerwelts-Antwort „Stein ist gepresster Sand" und "Bei den Stalagmiten scheidet sich Kalk aus dem Wasser ab". Es geht nicht um die Handwerker-Antwort „Stein wird bearbeitet im Sinne der DIN-Norm 12345". Unbefriedigend bleibt es, von Namenslisten erschlagen zu werden: „Stein ist eine Vielfalt von 2000 Gneisen, Graniten, Sandsteinen und Basalten - schauen Sie mal, da habe ich ein besonders schönes Exemplar von Stein". Es geht um steinharte Chemie: Welche Elemente stecken im Stein? Wie haben sie sich verbunden? Wie erzeugen sie die Festigkeit des Steins? Wie fest sind denn verschiedene Steinsorten gegenüber Feuer und Wasser, Abrieb und Säure? Warum ist Travertin gegen sauren Regen erstaunlich stabil, üblicher Kalkstein aber nicht?

Eine eigene Ideologie des konsequenten Nachfragens bis zur jeweiligen chemischen Formel, des Neubauens einer erfragten Substanz heraus aus ihren chemischen Formeln zu ihrem chemischen Bildungsprozess in Natur und Industrie habe ich entwickelt, einschließlich dann eines Nachfragens nach dem wissenschaftsgeschichtlichen Erkanntwerden dieser Substanz, dann schließlich - soweit vorhanden - ein Positionieren der Substanz in Wert, Nutzen, Preis und gar politischem Hintergrund.

Mit dem Kanon des „Lehrplans der Chemie an Gymnasien", mit den Unterrichtshilfen für Chemielehrer wäre das eine Qual geworden. Der Unterricht, wie er von dieser Homepage aus meinen Schülern begegnet, als wäre das doch ganz locker und machbar, liegt quer zum tradierten Repertoire des Chemie-Lehrers. Ich frage erst subjektiv, aus eigener Lebenserfahrung und -Neugier, ein Bündel Fragen, von denen ich spüre, dass ihr Klären ein ganzes Schuljahr dauern wird. Dann kläre ich diese Fragen in Text und Formel. Als drittes - manchmal ein Verbrechen gegen die als erstes nach schülergeeigneten und den deutschen Sicherheitsanforderungen genügenden Versuchen suchenden Chemiepädagogen - als drittes schaue ich nach: Welche Versuche können wir denn da selbst dazu machen?

   
Die Antworten für meine Form des Unterrichts liefert im Jahr 2010 freundlicherweise, an der Lehrplankommission und den Schulbuchverlagen vorbei das deutschsprachige Volk. Mit dem Volkslexikon „Wikipedia". Mit weiteren Frageseiten, Tippseiten, Tratschseiten, Referatseiten. Mit dem „Festival des selbstgemachten Volksfilms" - den Filmportalen.

Das Erstellen der Inhalte dieser Homepage, das Antwortsuchen mit den Quellen, die einem Lehrer vor dem Jahr 2000 zugänglich waren - Bibliotheken, Lehrmittelverlage, Handreichungen des Oberschulamtes - es wäre zur Syssyphusarbeit geraten. Ich pausierte etwa ab 2004 in meinen Unterrichten von Chemie, als ich die lehrplanmäßige Welt zu rezitieren vermochte. Und als ich dann 2009 wieder einstieg, war die Welt des Zugriffs auf Außerlehrplanmäßiges erfreulich verändert. Es war machbar, mit Klicks ins Internet zu studieren. Die eigene Vision vom Chemie-Unterricht war publizierbar auf der eigenen Homepage. Unterricht war kommunizierbar mit den Schülern, die alle Internetzugang hatten, Drucker daheim, e-mail, Handy.

Jedes Thema dieser Homepage frage ich aus meiner Sicht zuende. In diesem Kasten mit Rahmen. Jedes Thema wurde in zwei Schulklassen während 2010 von den Schülern dann abgeklopft. Sie recherchieren vorab die „Fragen vorweg" und schicken mir Beiträge dazu. Sie stellen im Unterricht Fragen rings um das Thema, auf die sie kommen und ich nicht kam. Aus meinem Wissen über die Möglichkeiten schulchemischen Experimentierens und der laufenden Debatte mit den Schülern wuchsen Versuche zum Thema.

Am Anfang steht hier eine chemische Frage. Am Ende geht es auch wieder um Chemisches. Dazwischen gleiten wir hinaus in die Physik und Biologie, ins Handwerk und in den Kommerz. Ja klar. Ja gerne.

Der Lehrer hat sich einmal durch den chemischen Aspekt einer Frage durchgefressen, bis er die Frage für sich als beantwortet empfand. Das kann man im Voraus auf dieser Homepage durchlesen. Der laufende Unterricht, die Ausweitung des Beantwortens hinaus in die Schulklasse, musste immer wieder abgeschnitten werden: Stopp, Schluss der Schulstunde. Und rabiater noch: Egal, bis wohin wir am Stunden-Ende gelangten - mehr zu dem Thema kommt nicht in diesem Schuljahr. Die nächste Chemie-Doppel-Stunde ist erst in einer Woche, nur ein Bruchteil der Klasse ergreift zwischendurch eine Initiative für Chemie, alle andern Fächer wälzen sich eine Woche durchs Schülerhirn... Mit passiver Leere und fernen Papier-Notizen sitzen die Schüler also in einer Woche erst wieder da. Da fangen wir mit einer anderen Frage an, während einer oder zwei Doppelstunden.

Diese Homepage ist Heftklammer eines Schulgeschehens, das bestimmte Fachinhalte in zeitlich sehr auseinanderliegende Happen zerlegt. Vorauslesbar für ein ganzes Schuljahr, nachlesbar dann auch. Vom Lehrer in einem Guss gefertigt, beginnend am 10. September 2010, endend am 30. September 2010. Ab da ein Jahr lang durch Schülerbeiträge aktualisiert. Ein gemeinsames Internet-Chemie-Buch. Sollten Fragen hier nicht fertig beantwortet sein, so dürften die hier gegebenen Stichworte doch reichen, um so weit im Beantworten zu gelangen, wie das über das Internet möglich ist.